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Augenhöhe und Bauchgefühl.

Wie jede Person mit einem Account auf LinkedIn und minimal ausgefülltem Profil bekomme ich mehrmals im Monat Anfragen von Recruitern, entweder aus Personalabteilungen oder von einschlägigen Dienstleistern.

Diese Anfragen kommen inzwischen in einer neuen Qualität daher, eine neue Generation ist am Start. Es sind jetzt meistens Frauen und sie grüßen mich höflich, stellen sich selbst, die Position und das Unternehmen kurz vor und fragen, ob ich interessiert bin. Wenn ich ablehne, bedanken sie sich, oft mit Bedauern oder ein paar Bemerkungen. Gelegentlich werde ich auch gefragt, ob ich nicht geeignete Kandidatinnen empfehlen könnte oder vielleicht für die Zukunft in Kontakt bleiben möchte.

The good, the bad,

Das ist doch das Mindeste! höre ich mich gerade denken. Aber die Vorgeschichte dazu ist voll mit barschen Verfügbarkeitsanfragen, ganz unrealistischen und undurchdachten Stellenbeschreibungen, mit Jobscammern und Profilsammlern. Autorespondern, die mich informieren „Ich bin nicht erreichbar. Diese Mail wird nicht gelesen“ und wechselnden Kontaktpersonen, auch in einem Schriftwechsel von nur vier E-Mails.

Teilweise hatte ich auf freundliche Ablehnungen mit konkreter Rückmeldung noch nicht mal mehr eine Antwort bekommen. Erst recht nicht, wenn erkennbar war, dass ich das Unternehmen recherchiert haben musste, dass ich mir kritische Gedanken zu der Position gemacht oder die Anzeige wiedererkannt hatte. (Heikle Stellen marschieren die Nahrungskette der unterschiedlich seriösen Dienstleister hoch und runter und kehren einige Monate später wieder, wie Untote.)

and the reason

Na klar, Fachkräftemangel, die müssen sich jetzt mehr Mühe geben, höre ich mich denken. Gut, worin besteht sie denn genau, diese Mühe? Was erlebe ich, was habe ich als gut und als schlecht empfunden und warum eigentlich? Nach welchen Kriterien unterscheide ich? Da muss doch mehr sein als „die war so nett“ oder „mein Bauchgefühl hat nein gesagt.“

Die neuen Anfragen sind jetzt nicht nur freundlich und höflich, sondern mit ihrer Vorstellung und den Informationen über die offene Position bieten sie mir einen Kontext an, eine Story, Anknüpfungspunkte. Und damit signalisieren sie Interesse an einer Beziehung. Keine freundschaftliche, aber dennoch eine Beziehung, und zwar eine Geschäftsbeziehung: Hier offene Stelle, dort Fachkraft, kommen wir ins Geschäft? Das ist eine Anfrage auf Augenhöhe, ein Austausch unter gleichrangigen Partnern. Sogar Leute, die mitten auf der Straße nichts als die Uhrzeit von mir wissen wollen, bedanken sich doch für die Auskunft.

Die Frage, ob ich vielleicht passende Kontakte vermitteln könnte, versucht sogar, diese Beziehung zu vertiefen. Sie bringt zum Ausdruck, dass ich außer Fachwissen noch mehr von Wert habe: Zugang zu einem Netzwerk mit erweiterten Beziehungen. Gefragtwerden spricht meine Hilfsbereitschaft an, weckt Neugier, signalisiert mir, dass ich als jemand wahrgenommen werde, der nicht nur in diesem Augenblick für das unmittelbare Ziel etwas anzubieten hat. Was ich demnach wahrnehme, ist Respekt gegenüber mir als Person und als erfahrener Fachkraft.

Potenzial der Professionalität

Im Gegensatz dazu ist erst Anfragen und dann Stehenlassen respektlos und eigentlich dumm. Es vermittelt, dass da jemand ein Soll erfüllen muss und automatisch eine Liste abarbeitet – so jemand sieht nichts als die unmittelbaren, eigenen Ziele.

Wer so auftritt, verzichtet ohne Not auf das Potenzial, das die Situation wirklich bietet. Der denkt nicht in größeren Zusammenhängen und längeren Zeithorizonten. Wer ein Gespräch nicht so führen kann, dass es später störungsfrei wieder aufgenommen werden kann, verbrennt Brücken. Solche Anbieter erkennen weder ihre Rolle auf diesem Markt, noch verstehen sie ihre Funktion in einem dynamischen Geschehen.

Das ist fehlende Professionalität und so nimmt man es auch wahr. Solchen Umgang will man nicht, daraus kann nichts Produktives entstehen. Man mag das in der Situation so analytisch nicht durchdenken, aber auf die Wirkung kommt es an: Bauchgefühl regelt.